
Greenland Husky Trail
Am Flugplatz der grönländischen Hauptstadt Nuuk herrscht jeden Morgen das reine Chaos. Innerhalb kürzester Zeit wollen gleich fünf Dash 8 Turboprops des ansässigen Homecarriers Air Greenland ihre Heimatbasis verlassen. Auf dem Programm stehen Linienflüge nach Kangerlussuaq, einzige Zieldestination aller Flugnummern. Nur auf dessen Flughafen, mit ausreichender Pistenlänge von 3.810 m, kann der einzige Jet der Airline, ein A330neo landen. Die Städte an den Küsten des Landes, wo fast alle der 56.000 Grönländer leben, verfügen zwar über Airports. Doch keine deren Runways ist länger als 1.000 m, oft herausgesprengt aus felsigen Küstenformationen.
In der kleinen Abflughalle von Nuuk wird es spätestens ab sechs Uhr morgens richtig eng. Obwohl man an zwei von drei Check-in Schaltern am Limit arbeitet, staut sich die Schar eintreffender Passagiere bereits vor dem Gebäude. Für manche Einheimischen kein Problem, gilt doch Rauchen in diesem Teil der Welt quasi als Volkssport. Die Kolonne heranrollender Taxis scheint kein Ende zu nehmen. Wenn überhaupt fasst das Terminal maximal 100 Leute. Doch jetzt wollen in der nächsten halben Stunde fünf Flieger, jeweils mit einer Kapazität für 37 Passagiere, pünktlich abheben. Glücklicherweise gehört Grönland nicht zur Europäischen Gemeinschaft und spart sich so bei Inlandsflügen die vorgeschriebenen Sicherheitskontrollen. Plötzlich ertönt ein Aufruf für den ersten Abflug, in unverständlich grönländischer Sprache. Welche der Türen als Gate zur Maschine fungiert ist im Gedränge aber nicht zu erkennen. Zumindest belegte Brötchen gehen nebst Kaffee am Minikiosk sprichwörtlich weg wie die warmen Semmeln. Der Nachschub beim Schmieren von einigen weiteren Sandwichs gerät ins Stocken. Um sein Flugzeug nicht zu verpassen, gibt es für ausländische Besucher nur eine Lösung. Sich Einreihen in die unkoordiniert entstehenden Schlangen an verschiedensten Ausgängen. Endlich, beim vierten Versuch leuchtet ein grüner Hacken auf dem Bordkartenlesegerät auf. Eigentlich bräuchte man sich keine Sorgen machen, denn alle Maschinen haben nur ein Ziel. Es heißt Kangerlussuaq, und wird quasi im Minutentakt angesteuert. Allerdings nicht für mich, ich will weiter bis Sisimiut, der mit 5.500 Bewohnern zweitgrößten Stadt des Landes. Jener Ort wird manchmal als Dog City bezeichnet, weil sich dort viele Huskyfarmen befinden. Der Grönlandhund gilt unter Schlittenhunden als eigenständige Rasse, besonders kräftig und ausdauernd. Für die letzten Jäger bei den Inuit, dem indigenen Arktisvolk, für Transport und Jagd überlebenswichtig.
Für unseren Flug ab Nuuk steht die als OY-GRH registrierte DHC-8-200 und dem Namen Qarsoq am Vorfeld bereit. Der Begriff wird mythologisch betrachtet als ein Pfeil interpretiert. Das grönländische Inuktitut fällt durch häufige Verwendung des Buchstabens Q völlig aus der Reihe sonstiger Sprachgruppen. Die knallrote Dash 8 wurde 1997 gebaut und macht trotz ihres hohen Alters einen gepflegten Eindruck. Als erste von insgesamt acht Exemplaren stieß sie im Mai 2010 zur Flotte von Air Greenland. Aufgrund der klimatisch äußerst schwierigen Einsatzbedingungen wundert es nicht, dass eine Maschine nach einer harten Landung 2014 als Totalverlust abgeschrieben werden musste. Auch die Piloten sitzen im Cockpit mit olivgrünen Funktionsoveralls, anstelle von Anzug und Krawatte. Erster Zwischenstop ist Maniitsoq, eine Gemeinde mit kaum 2.000 Seelen. Trotz Abgeschiedenheit am Ende der Welt schaffen es die hier zusteigenden Passgiere noch heute innerhalb weniger Stunden ins weit entfernt liegende Kopenhagen. Der inländische Luftverkehr ist wie ein Flugtaxiunternehmen organisiert. Hauptgrund ist das völlige Fehlen eines Straßennetzes zwischen den oft nicht weit auseinanderliegenden Orten.
Praktisch in jeder Stadt endet die längste Fahrroute als Einbahnstraße am lokalen Flugplatz. Und falls kein Gelände zum Bau eines Airports verfügbar ist, setzt man Hubschrauber ein. Bei etwas längeren Flugsektoren, wie jetzt 29 Flugminuten von Maniitsoq bis Kangerlussuaq, bekommen die Passagiere von fleißiger Stewardess sogar ein Getränk plus Snack offeriert.
Weniger Stress hatte einen Tag vorher ihre Kollegin von Air Iceland Connect. Die kleine Inlandtochter von Icelandair verkehrt nur zweimal wöchentlich zwischen Keflavik und Nuuk. Für die 1.400 km lange Strecke braucht deren DHC-8-200 nonstop mindestens drei Stunden. Ein rekordverdächtiger Wert für solchen Turboprop auf einer Linienroute. Trotzdem ist die Verbindung bei Einheimischen wie Besuchern sehr beliebt. So kann man sich zweimaliges Umsteigen in Kangerlussuaq und Kopenhagen sparen, um sein endgültiges Reiseziel zu erreichen. Mich brachte im April 2023 die Dash 8 mit Kennzeichen TF-FXG von Island direkt auf die größte Insel der Welt, noch bemalt in den ursprünglichen Unternehmensfarben. Mittlerweile wurde der restlichen Flotte, bestehend aus zwei DHC-8-400 und zwei weiteren DHC-8-200, das etwas langweilig anmutende Design der global agierenden Muttergesellschaft verpasst. Da sowohl Air Iceland Connect als auch Air Greenland die DHC-8-200 verwenden, scheint das robusten Muster optimal für Grönland zu sein. Hauptsache die Flugzeuge können auf den vielen Runways mit weniger als 1.000 m Pistenlänge starten und landen.
In Kangerlussuaq erwartet man, wie jeden Morgen, das neue Flaggschiff von Air Greenland. Es ist der am 7. Dezember 2022 ausgelieferte Airbus A330-800 mit dem Namen Tuukkaq. Der Name ist ein alter Begriff aus der grönländischen Jagdkultur und bedeutet übersetzt Harpunenspitze. Der Neuzugang, registriert als OY-GKN, löste seinen Vorgänger, einen Airbus A330-200 tituliert als Norsaq, dem mutigen Speerwerfer, ab. Dieser wartet nun nach zwei Jahrzehnten zuverlässigem Einsatz bei Air Greenland in der Wüste von Arizona auf mögliche Käufer. Kaum ist der erst wenige Monate junge Widebody gelandet, ist er von einem halben Dutzend Dash 8 umzingelt. Eigentlich sind es jetzt nur wenige Schritte von einem Flugzeug zum nächsten, könnte man meinen. Doch alle Wege führen zunächst Richtung Terminal, wo eine für internationale Flüge obligatorische Sicherheitskontrolle stattfindet. Dem Außenstehenden bietet sich ein skurriles Bild die Flotte von Air Greenland betreffend. Das modernste Produkt von Airbus direkt neben Zubringermaschinen, von denen alle mindestens 25 Einsatzjahre auf dem Buckel haben. Den Passagieren kann es egal sein, sofern ihre Reisevorhaben reibungslos funktionieren. Doch die kürzliche Ablieferung des Airbus A330-800 deutet bereits an, dass der für Grönland so extrem wichtige Luftverkehr vor einem fundamentalsten Wandel steht. Im kommenden Jahr 2024 werden in Nuuk und Ilulissat zwei neugebaute Flughäfen eröffnet. Jeder wird über eine jettauglichen Runwaylänge von 2.200 m verfügen. Ein Jahr später kommt mit Qaqortok in Südgrönland mit 1.500 m Pistenlänge ein dritter entsprechend ausgestatteter Flughafen hinzu. Viele der DHC-8-200 werden dann nicht mehr benötigt und das jetzt noch so quirlige Kangerlussuaq wird vermutlich in einen Dornröschenschlaf versinken.
Ich jedenfalls steige in Sisimiut auf das derzeit umweltfreundlichste Transportmittel um. Hundeschlitten mit erfahrenen Mushern bringen Abenteuerlustige auf dem sogenannten Husky Trail zurück nach Kangerlussuaq. Diese Route führt über eine Distanz von 150 km, entlang einer zauberhaften Fjordlandschaft und Zwischenstop am futuristischen UFO Point. Im Gegensatz zu den anderen Arktisländern werden hier die Tiere nicht in Reihe, sondern sternförmig angespannt. Damit kann der Schlittenführer mit Peitsche immer erkennen, welche der Hunde sich am wenigsten anstrengen. Der Trip zählt zu den spektakulärsten Touren, die Grönland seinen wenigen Wintertouristen bieten kann.
Text and Pictures: Ralf Kurz